am anfang war das wort eine mischung aus wahrnehmung und klang

lebensmuster

nicht weit von hier, ein paar straßenecken weiter nur, wurde vor kurzem ein kind weggeworfen. in einem altkleidercontainer ist es gelandet und dort gestorben. vielleicht war es auch schon tot, ich weiß es nicht genau. ich mag das nicht nachsehen in diesem internet, in dem diese information ohne zweifel zu finden sein wird. ich will es gar nicht wissen. besser nicht.

gehe ich dieser tage vor die tür, zur u-bahn, zum einkaufen, zum luftholen, werde ich ständig daran erinnert. an hauswänden und in ladenfenstern sehe ich die polizeiplakate, überall, die um mithilfe der bevölkerung bitte. diese vielen menschen in neukölln. wer kann helfen? wer hat etwas beobachtet, was ist passiert. als wäre etwas besonderes daran, wenn jemand ein bündel in einen container wirft. dazu gibt es nichts zu sagen, auch nicht mitten in der nacht. so ist das hier, alles ganz normal. ich gehe daran vorbei, ich habe nichts gesehen und nichts zu sagen.

so ist das. die kindergeschichten, die tödlich enden, bleiben am leben, werden besprochen und beschrieben. sie werden auf plakate gedruckt und kommen in die zeitungen. sie legen sich in schleifen um die kehlen. an die vor ein paar jahren entdeckten, in blumenkästen vergrabenen neugeborenen wird man sich erinnern, an die zerschlagenen und verhungerten kleinen toten, für die es zu spät ist. die bleiben haften im allgemeinen schreckensgedächtnis.

wie kann man nur, fragt die moral. wie ist das möglich? wie geht das?

ein kind wegzuwerfen ist unter umständen vermutlich nicht besonders schwer, ob es nun tot ist oder noch lebt. man muß ja nicht hinsehen, man muß es nicht merken, nicht spüren. in einer welt, in der gewalt ohnehin ein gängiges lebensmuster ist, das sich insbesondere in notlagen als überaus hilfreich erweist. so ehrlich sollte man sein, bei aller moral. und in einem moment, in dem es einfach nur einen ausweg braucht, ein schnelles ende. damit bald wieder alles so ist, wie es immer ist, alles ganz normal. der schrecken kommt später, das bewußtsein. wenn es wieder funktioniert. wenn es überhaupt funktioniert. vielleicht, vielleicht auch nicht. vielleicht kommt auch einfach nur die polizei.

ich bin nicht zynisch, nein. weder das noch moralisch. ich weiß einfach nur, wie der weg bereitet wird. ich weiß es an leib und seele, jahre und jahrzehnte hatte ich zeit, mir darüber klarheit zu verschaffen. über mich und über die anderen beteiligten. und über das schweigen, das so gern über alles ausgebreitet wird, das nicht tödlich endet.

wie viele betroffene sollen noch feststellen, egal ob öffentlich oder privat, daß langfristig betrachtet schläge bei weitem nicht das schlimmste sind. haut heilt schnell und hämatome verschwinden von allein. ich selbst verschwende seit jahrezehnten kaum noch einen gedanken daran. das hat sich erledigt, beinah wie von selbst, in einer nacht, mit einem traum. es sind die worte, die verachtung darin und die nichtkörperliche vernichtung, die nachhaltig wirkt, wie nichts sonst. das ist es, aus dem es lange keine rettung zu geben scheint, weil es im nachhinein allzu leicht mit jedem x-beliebigen aber verknüpft werden kann. aber die erwachsenen hatten es doch auch nicht leicht, damals. aber du warst auch ein so eigenartig bockiges kind, damals. aber das war doch alles gar nicht so gemeint, damals. aber das mußt du doch verstehen, heute.

ja, ich weiß. ich bin selber schuld, sowieso. so einfach ist das. (nicht.) dieses aber und das schweigen, das damit kreiert wird, macht wütend mitunter, unendlich wütend.

dennoch, ich lehne das verstehen nicht ab. wie könnte ich, ich bin ein geborener denker. nur so habe ich überlebt. immerzu denkend und begreifend habe ich meinen verstand beieinander gehalten und alles sehen, hören, speichern können, was ich wissen mußte. auch das radikale wechseln der position ist von entscheidender bedeutung. irgendwann, wenn man sich selbst dazu entscheidet. andere verstehen zu können, sei ihr verhalten auch noch so absurd, verletzend und vernichtend, ist eine unglaubliche erfahrung. den gegner verstehen zu lernen, den langjährigen freßfeind, kann eine offenbarung sein. letztendlich zerbricht es die vorstellung von schuld.

vieles, vermutlich das meiste, verstehe ich immer noch viel zu wenig. emotional bin und bleibe ich minderbemittelt, das wird sich womöglich nicht mehr reparieren lassen. doch es ist (mir) möglich, mit diesem menschen zu fühlen, dem es seinerseits möglich war, ein bündel kind in einem container zu entsorgen. so groß die sorgen und die not. kaltblütigkeit existiert so gut wie nie, auch das habe ich verstanden. verstehen macht dieser tage, daß ich mit schrecken durch die straßen gehe, von plakat zu plakat. weil ich von einem sinnlos toten kind weiß, nicht weit von mir, für das es zu spät ist.

verstehen will ertragen sein. verstehen, ohne verschleiernde moral und schützenden zynismus, kann sich äußerst schmerzhaft gestalten.

p. s. auch mit mir selbst bin ich heute (meistens) nicht mehr zynisch. nein, ich möchte nicht tauschen mit dem kind im kleidercontainer. ich behaupte nicht (mehr), daß es besser wäre, das leben möglichst schnell hinter sich zu bringen. ganz egal, auf welche widerliche art und weise. nichts in mir muß noch herumwüten, daß ich das alles schließlich nicht gewollt hätte. nicht diesen körper, nicht diese stimme, kein herz, keinen verstand und keinen atem. viel zu sehr mag ich die sonne, die wärme,  das licht. die dinge und die musik, die versteckten strukturen in allem. ich liebe die schwingungen und muster in den dingen dieser welt, wie sie wachsen, in allem. wie sie werden, die form wechseln, immer wieder, um letztendlich wunderbar zu verderben.

3 Gedanken zu „lebensmuster“

  1. ein sehr berührender Text! Danke dafür! Über manches darin, das persönliche Geschichte berührt, würde ich mich gerne mal mit dir austauschen (f2f).

    Zum Phänomen der Kindstötung direkt nach der Geburt möchte ich ergänzend sagen: neu daran ist nur, dass es im Container landet, früher wurde eher begraben und es wurde seltener öffentlich.

    Noch vor nicht allzu langer Zeit gab es im Strafgesetzbuch sogar einen extra Paragraphen dafür. Der enthilet eine mildere Beurteilung und Strafe, weil es ein Verständnis für die außerordentlich physische, emotionale und „mental verwirrte“ Situation der unfreiwillig Mutter gewordenen Frau gab. Allerdings galt das Problem, ein „uneheliches“ Kind zu gebären als Wurzel der Verwirrung – und da das mittlerweile kein Thema mehr ist, wurde der Paragrapf 1998 abgeschafft. Seither werden die Mütter wegen Mord oder Totschlag verurteilt, was eine deutliche Verschlechterung ist.

    Selber denke ich, dass die Frauen aus einer gefühlt schier unausweichlichen Zwangslange heraus handeln – und tatsächlich „nicht ganz bei sich“ sind, wenn sie ihr Kind töten.

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