vierzehn oder fünfzehn war ich, als sich mir zum ersten mal ein mensch zuwandte und mit mir sprach. alles zuvor war familie oder pflicht. ich hatte die eine oder andere figur in dem spiel als mensch erkannt, doch ich selbst kam als mensch nicht in frage. der weg schien mir zu weit, zu gefährlich auch. ich wollte mir nichts anmaßen, mich nicht erheben über den sumpf.
so verkrochen führte ich ein seltsames leben. nach außen war alles glatt, es gab arbeit, es gab essen, es gab schule. familie und pflicht eben. es gab auch urlaub, meistens irgendwo in bayern. am chiemsee zum beispiel. urlaub war eine lästige pflicht, zu viel familie. zu wenig schule. schule war mir flucht und rettung, aber nicht wirklich. schule war eine illusion, in der ich in wahrheit nur wenig raum fand. doch es war immerhin nicht familie.
in solcher bedrängnis tauchte der erste mensch auf, ein fremder mensch. es war eine frau, die in derselben pension untergekommen war. sie machte keinen urlaub, sie machte pause. ihr auto war voll mit ware, die sie unterwges verkaufte. oder vorstellte. oder was auch immer, ich verstand es nicht genau. die frau war unverschämt, setzte sich zum frühstück an unseren tisch. sie wechselte regelrecht, nahm ihr gedeck und kam zu uns herüber. das hatte noch niemand gewagt.
meine eltern hatten keine freunde, sie hatten nur sich. und ihren krieg. und mich. zuletzt meinen bruder. nie kam jemand zu uns zu besuch, keine nachbarn, keine kollegen, niemand. nur großeltern und andere verwandtschaft, vermutlich ließ sich das nicht vermeiden.
die frau schien das nicht zu wissen. sie saß an unserem tisch, schnitt sich knoblauch aufs brot und redete. daß man mit der geburt auch den tod eingekauft habe, sagte sie zum beispiel. einfach so. viel mehr erinnere ich nicht. doch ich verstand, was sie sagte. alles. das weiß ich noch. ich wollte antworten, wollte auch reden. mitreden, vielleicht zum ersten mal. es schien mir etwas wert, aber ich traute mich nicht.
ich saß in unserem pensionskinderzimmer und spielte mein akkordeonrepertoire durch. mein bruder lernte radfahren in diesem jahr. ich lief aus dem haus, aus dem dorf und über die felder. allein. am nächsten tag saß die frau wieder bei uns, und ich sah zu, wie meine mutter kämpfte. es war lächerlich. mein vater nickte. dann saß ich wieder und spielte. du bist das, sagte die frau, als sie mich anschließend aus dem zimmer kommen sah. ich lief los, allein über die felder. die ganze zeit redete und redete ich vor mich hin.
am letzten tag fragte die frau mich, ob ich mit ihr spazieren gehen wolle. ich wollte, ich hatte davon geträumt, beinah darauf gewartet. doch ich hatte es nicht für möglich gehalten, nicht im leben. nicht für mich. ich sagte nein vor schreck, obwohl ich doch vorbereitet war. vielleicht sagte ich auch gar nichts, schüttelte nur den kopf. vielleicht lief ich weg. es war die schrecklichste zeit meines lebens. von tag zu tag kroch ich, immer mein eigenes spiel im kopf, in jeder sekunde. der gedanke, wie ich das alles zu einem ende bringen könnte, notfalls. die kraft reichte kaum für die ständige last. kein mensch zu sein und am ende meiner kräfte, darüber hätte ich nicht reden können. das hätte ich auch nicht verraten wollen.
die frau war klug und drängte mich nicht. am nächsten tag fuhr sie los.
ihr auto hatte ein berliner kennzeichen, glaube ich. ich versuchte, es mir zu merken. es war das einzig noch greifbare. ich wollte besser vorbereitet sein, beim nächsten mal. das es nicht geben würde, das wußte ich natürlich. doch ich wollte vorbereitet sein.
bis heute denke ich, daß es vielleicht meinetwegen war. daß die frau deshalb zu uns an den tisch gekommen ist. natürlich weiß ich nicht, was für ein spiel das insgesamt war. was sie mit meinen eltern, meinem bruder sonst noch so hatte. ohne mich. was sie gehört hat oder erkannt haben könnte. da gibt es viel. die vorstellung, daß niemand jemals einblick in unsere familie haben könnte, weil wir so verschwiegen, so verkapselt waren, so äußerlich glatt und rund und unauffällig, hat mich noch lange begleitet. ein trugschluß, der mir bis heute einleuchtet, obwohl er in diesem sommer den ersten riß bekam. eine erste hoffnung.
ich denke gern, daß diese frau speziell mir zeigen wollte, wie menschen miteinander sind. daß sie miteinander sind. wie sie reden und denken können. wie sie leben. miteinander.
denn das hat sie.
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