am anfang war das wort eine mischung aus wahrnehmung und klang

nachsicht

schnell noch was erledigen, bevor die migräne richtig zuschlägt. manchmal geht das, meistens ist es keine gute idee. meistens geht es dann erst recht los, mitten im gewühl. hin und wieder muß es trotzdem sein. der brief heute mußte zur post, daran führte kein weg vorbei. also schnell. und dann auch gleich noch ein paar kleinigkeiten einkaufen, kann ja nicht so schlimm sein. dauert ja höchstens zehn minuten.

im gewühl geht es dann los. das licht, der lärm, all die menschen. das war keine gute idee. ich suche mein zeug zusammen, stelle mich an der kasse an. kassen geben seltsame geräusch von sich, außerdem gibt es da ein rotes leuchten, das sonst niemand zu sehen scheint. niemals. ich drücke gegen meinen kopf, suche die richtige stelle, seit jahren schon. ohne sie jemals zu finden. ich halte mir das rechte auge zu, halte mir die ganze rechte seite weg, nicht nur im gesicht. die rechte seite, bis fast runter zur hüfte, könnte mir die mal wer wegschneiden.

da ist aber einer müde, schreit mich die kassierin fröhlich an.

das macht mich hilflos. meint sie mich? bin ich einer? wir sind in neukölln, vermutlich denkt sie ich sei eine dieser (eigentlich ja nicht mehr) jungen kreativen, die die nacht zum tag machen und am tag dann nicht aus der wäsche gucken können. was soll ich sagen? habe ich kopfschmerzen? bin ich krank? geht es sie etwas an? ich weiß nicht, was ich sagen soll. ich sage einfach nichts, ich muß mich auf den kassiervorgang konzentrieren.

jetzt noch nicht, aber unter vollmigräne sehe ich vermutlich aus wie volltrunken. mein reden ist ein lallen, mein hören verschwommen, mein gang. ich weiß nicht, fühlt sich an wie aufrechtes kriechen. aufklären könnte ich das alles dann auch nicht mehr, kommunikation ist nicht möglich. hilfe auch nicht. menschen sind nicht mehr vorhanden, sind in jedem fall unerreichbar. was auch besser ist, sonst käme ich womöglich auf die idee, um meine notschlachtung zu betteln. ist mir schon passiert, mitten in der nacht. aber da war nie wer da. zum glück.

manchmal stelle ich mir vor, wie ich in diesem zustand irgendwo aufgegriffen und in eine gummizelle verbracht werde. zur ausnüchterung. das ist auch so ein vorteil des wohnbüros und der arbeit zu hause, daß ich selbst bestimmen kann, wann ich mich wo in der welt bewege. so ziemlich jedenfalls. hier drinnen ist alles leer, hier kümmert sich niemand. ich ziehe meine schleifen, wenn nötig eben mit einem auge, kriechend. ich erledige meine arbeit immer. wenn nicht heute, dann morgen.

eben, nach abgeschlossenem kassiervorgang – schweigend und schwierig, dieses fiepen, dieses licht – wünscht mir die kassiererin lautstark einen guten tag noch. ihr kopfschütteln danach ahne ich eher, als daß ich es sehe, ich gehe, ich krieche davon. sie lacht dann aber so laut mit dem nächsten kunden über mich, das ich das auch in meinem zustand nicht überhören kann. doch ich höre nicht zu. das ist vorbei.

vor der tür haben sich massen von menschen vor dem gewitter in den eingangbereich des geschäfts geflüchtet. ich flüchte vor ihnen in den regen, der ist rhythmisch, kühl und dunkel. das ist gut.

lebenslernaufgabe für heute: nachsicht üben in einer welt, die niemals nachsichtig ist. (kann ich noch nicht so gut.)

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