am anfang war das wort eine mischung aus wahrnehmung und klang

welten bewegen (4)

in der küche ist heute die lampe meines vaters von der wand gehüpft. das heißt, eigentlich hat eine gute freundin sie ein wenig übereifrig abmontiert, was alles in allem sehr lustig war. aber das tut nichts zur sache. die lampe lag auf der nase, die dübel waren herausgerissen, und ich sah mich unvermittelt gezwungen, jede menge werkzeug auszupacken. schlagbohrer und spachtelmasse, schraubendreher und akkuschrauber, hammer, zange und bleistift. auch, weil ich – wenn schon, denn schon – die ebenfalls hängenden dübel im bad auch gleich reparieren wollte. schon seit wochen, wenn nicht seit monaten wollte ich das.

solche dinge brauchen ruhe, und dazu war heute eigentlich nicht der tag. mit pochenden schmerzen aufgewacht, mit einem schwindel, einer lüge im kopf. das ist nicht gut. eines muß nach dem anderen gehen, wenn man die dinge zu bewegen versucht. zu flicken, zu heilen. das braucht ruhe und zeit. das braucht den moment, beinah eine hingabe an diesen. und heute ist nicht der tag. alles geht wild und blind, aber es geht. ganz gut sogar.

daß ich von meinem vater gesprochen habe, genau in dem moment, als die lampe sich fallenlies. vielleicht war es das. daß er bald schon, in diesem jahr, in ein paar wochen bereits, 20 jahre tot sein wird. und daß ich nicht weiß, was ich tun soll.

abends sind die neuen dübel fixiert, zur sicherheit eingegipst. die lampe hängt, alles wieder stabil. im bad bohre ich kurz vor acht schnell die neuen löcher in die frisch verspachtelten flächen. das ist noch ganz weich, das geht mit dem akkuschrauber. nur für den letzten rest muß ich mit der alten schlagbohrmaschine arbeiten, mit einem metallbohrer, ohne hammer. das ist genug. alles geht sauber und glatt, die dübel sitzen sofort. und endlich an der richtigen stelle. die bretter sind schnell angeschraubt. perfekt. ich bin perfekt. selbst wenn es nicht mein tag ist.

nein, eigentlich kann ich nichts. gar nichts im vergleich zu meinem vater, gegen den holzkenner, den holzkünstler, bin ich ein nichts.

doch wir sind uns nah, bis heute. wenn ich sein werkzeug in die hände nehme, bewege ich mich in seiner welt. für die feinarbeiten brauche ich inzwischen die lesebrille, wie er. wie ich ihn erinnere. um die kleinen schrauben an der lampe zu fixieren, um die exakten bohrpunkte mit dem bleistift zu markieren, um den bohrer richtig anzusetzen. mein vater schwitzt, wenn er an etwas arbeitet, die brille auf seiner nase rutscht. er ist konzentriert. er ist ganz bei sich, nur dann ist er da, immer.

ebenso erinnere ich, wie er dasaß, über jahre, neben sich. sich nicht regte, nicht sprach, immer schwieg. sich nicht wehrte, nichts tat, um etwas zu ändern. um die welt zu retten, meine welt. meine fürchterliche welt. oder auch nur die eigene, die seine. nichts.

handwerkliches arbeiten mit lesebrille verwirrt, die bilder finden mitunter nicht zusammen, das hirn kommt einfach nicht mit. kurz vor schluß bricht mir der schweiß aus und der kreislauf weg. ich sehe nicht, weiß nichts mehr, finde keinen halt. da ist sie, die angst, die mir in den vergangenen tagen schon ziellos durch den körper kroch. wie in der nacht, an dem mein vater mir erzählte, daß er in einen müllsack kriechen will, damit er keinen müll hinterlässt. damit er einfach nur weggeworfen werden kann.

letztendlich ist er aber nicht in einem müllsack gestorben, sondern jahre später in einem krankenhaus. ich bezweifle auch, daß es so überhaupt funktionieren könnte. das mit dem müllsack vermutlich unsinn. es gibt wege, um restlos zu verschwinden, ja. doch die sind wesentlich komplizierter, sowohl zu finden als auch zu gehen.

es sind also nicht nur 20 jahre. es ist wesentlich länger her, daß mein vater mich verlassen hat. ich muß ein kind gewesen sein. daran erinnere ich mich nicht, an diesen moment. nur an den seines todes.

lebensmuster

nicht weit von hier, ein paar straßenecken weiter nur, wurde vor kurzem ein kind weggeworfen. in einem altkleidercontainer ist es gelandet und dort gestorben. vielleicht war es auch schon tot, ich weiß es nicht genau. ich mag das nicht nachsehen in diesem internet, in dem diese information ohne zweifel zu finden sein wird. ich will es gar nicht wissen. besser nicht.

gehe ich dieser tage vor die tür, zur u-bahn, zum einkaufen, zum luftholen, werde ich ständig daran erinnert. an hauswänden und in ladenfenstern sehe ich die polizeiplakate, überall, die um mithilfe der bevölkerung bitte. diese vielen menschen in neukölln. wer kann helfen? wer hat etwas beobachtet, was ist passiert. als wäre etwas besonderes daran, wenn jemand ein bündel in einen container wirft. dazu gibt es nichts zu sagen, auch nicht mitten in der nacht. so ist das hier, alles ganz normal. ich gehe daran vorbei, ich habe nichts gesehen und nichts zu sagen.

so ist das. die kindergeschichten, die tödlich enden, bleiben am leben, werden besprochen und beschrieben. sie werden auf plakate gedruckt und kommen in die zeitungen. sie legen sich in schleifen um die kehlen. an die vor ein paar jahren entdeckten, in blumenkästen vergrabenen neugeborenen wird man sich erinnern, an die zerschlagenen und verhungerten kleinen toten, für die es zu spät ist. die bleiben haften im allgemeinen schreckensgedächtnis.

wie kann man nur, fragt die moral. wie ist das möglich? wie geht das?

ein kind wegzuwerfen ist unter umständen vermutlich nicht besonders schwer, ob es nun tot ist oder noch lebt. man muß ja nicht hinsehen, man muß es nicht merken, nicht spüren. in einer welt, in der gewalt ohnehin ein gängiges lebensmuster ist, das sich insbesondere in notlagen als überaus hilfreich erweist. so ehrlich sollte man sein, bei aller moral. und in einem moment, in dem es einfach nur einen ausweg braucht, ein schnelles ende. damit bald wieder alles so ist, wie es immer ist, alles ganz normal. der schrecken kommt später, das bewußtsein. wenn es wieder funktioniert. wenn es überhaupt funktioniert. vielleicht, vielleicht auch nicht. vielleicht kommt auch einfach nur die polizei.

ich bin nicht zynisch, nein. weder das noch moralisch. ich weiß einfach nur, wie der weg bereitet wird. ich weiß es an leib und seele, jahre und jahrzehnte hatte ich zeit, mir darüber klarheit zu verschaffen. über mich und über die anderen beteiligten. und über das schweigen, das so gern über alles ausgebreitet wird, das nicht tödlich endet.

wie viele betroffene sollen noch feststellen, egal ob öffentlich oder privat, daß langfristig betrachtet schläge bei weitem nicht das schlimmste sind. haut heilt schnell und hämatome verschwinden von allein. ich selbst verschwende seit jahrezehnten kaum noch einen gedanken daran. das hat sich erledigt, beinah wie von selbst, in einer nacht, mit einem traum. es sind die worte, die verachtung darin und die nichtkörperliche vernichtung, die nachhaltig wirkt, wie nichts sonst. das ist es, aus dem es lange keine rettung zu geben scheint, weil es im nachhinein allzu leicht mit jedem x-beliebigen aber verknüpft werden kann. aber die erwachsenen hatten es doch auch nicht leicht, damals. aber du warst auch ein so eigenartig bockiges kind, damals. aber das war doch alles gar nicht so gemeint, damals. aber das mußt du doch verstehen, heute.

ja, ich weiß. ich bin selber schuld, sowieso. so einfach ist das. (nicht.) dieses aber und das schweigen, das damit kreiert wird, macht wütend mitunter, unendlich wütend.

dennoch, ich lehne das verstehen nicht ab. wie könnte ich, ich bin ein geborener denker. nur so habe ich überlebt. immerzu denkend und begreifend habe ich meinen verstand beieinander gehalten und alles sehen, hören, speichern können, was ich wissen mußte. auch das radikale wechseln der position ist von entscheidender bedeutung. irgendwann, wenn man sich selbst dazu entscheidet. andere verstehen zu können, sei ihr verhalten auch noch so absurd, verletzend und vernichtend, ist eine unglaubliche erfahrung. den gegner verstehen zu lernen, den langjährigen freßfeind, kann eine offenbarung sein. letztendlich zerbricht es die vorstellung von schuld.

vieles, vermutlich das meiste, verstehe ich immer noch viel zu wenig. emotional bin und bleibe ich minderbemittelt, das wird sich womöglich nicht mehr reparieren lassen. doch es ist (mir) möglich, mit diesem menschen zu fühlen, dem es seinerseits möglich war, ein bündel kind in einem container zu entsorgen. so groß die sorgen und die not. kaltblütigkeit existiert so gut wie nie, auch das habe ich verstanden. verstehen macht dieser tage, daß ich mit schrecken durch die straßen gehe, von plakat zu plakat. weil ich von einem sinnlos toten kind weiß, nicht weit von mir, für das es zu spät ist.

verstehen will ertragen sein. verstehen, ohne verschleiernde moral und schützenden zynismus, kann sich äußerst schmerzhaft gestalten.

p. s. auch mit mir selbst bin ich heute (meistens) nicht mehr zynisch. nein, ich möchte nicht tauschen mit dem kind im kleidercontainer. ich behaupte nicht (mehr), daß es besser wäre, das leben möglichst schnell hinter sich zu bringen. ganz egal, auf welche widerliche art und weise. nichts in mir muß noch herumwüten, daß ich das alles schließlich nicht gewollt hätte. nicht diesen körper, nicht diese stimme, kein herz, keinen verstand und keinen atem. viel zu sehr mag ich die sonne, die wärme,  das licht. die dinge und die musik, die versteckten strukturen in allem. ich liebe die schwingungen und muster in den dingen dieser welt, wie sie wachsen, in allem. wie sie werden, die form wechseln, immer wieder, um letztendlich wunderbar zu verderben.

welten bewegen (3)

jahrelange körperliche mißhandlungen mit ein paar worten endgültig zu bewältigen, plötzlich und auch für mich beinah unerwartet noch sekunden zuvor, das ist das eine. das ist ein leichtes. mit welchen worten aber begegnet man den worten, die ebenfalls besiegt sein müssen. irgendwann.

zunächst einmal sind da meine namen. scheißblag, das eigentlich für alle kinder gilt, aber für mich ganz speziell. tante madga, was sich offensichtlich auf mein aussehen bezieht. genau verstehe ich das nicht. dann die tiere. ziege, das ist das wichtigste, ich weiß nicht, warum. ziege, das bin ich. darauf höre ich, wenn nach mir geschrien wird. doch auch andere kommen in frage, eule zum beispiel. heute finde ich das beinah interessant. ausgerechnet eine eule, der nachtvogel mit den leisen schwingen. ein stiller mörder. welches tier auch immer für mich gewählt wird, auf jeden fall ist es alt. oder kalt. alte ziege, alte eule, altes dreckstück. fischblut, kalt wie eis und ohne gefühl. dreck ist allerdings kein tier mehr, dreck ist noch weniger. dreck ist, worauf menschen mit ihren schuhen herumlaufen. dreck, das bin ich. wenigstens ein stück davon.

worte formen auch ideen und absichten, worte formen und bewegen welten. so habe ich es gemacht, und genau so machen es die anderen, die erwachsenen. die ist doch nicht normal, sagen sie über mich, über meinen kopf hinweg. die muß mal wo hin, sagen sie. so laut, daß ich es hören muß. ich bin gemeint, eindeutig, dagegen komme ich nicht an. ich fürchte mich, unmittelbar. worte reißen mich aus dem letzten bißchen ruhe in mir, immer wieder, mehr noch als die schläge. in diesem fall habe ich eine vage klischeevorstellung von einer irrenanstalt, denn irre bin ich, soviel steht fest. ich denke an eingesperrt und gefesselt sein, von fremden bewacht zu werden. niemals allein zu sein. ich denke an menschen, die noch verrückter sind als das, was ich bin, was ich lebe. da also soll ich hin.

ich gerate in panik.

doch ich sage nichts, ich schweige. ich tue so, als hätte ich nichts mitbekommen. ich stelle mich dumm, weil ich bleiben will, wo ich bin. ich warte, ein paar tage, ein paar nächte. ich bin allein. ich versuche, wachsam zu bleiben, bloß nicht einzuschlafen. obwohl ich nicht weiß, was ich tun könnte, wenn sie kommen, um mich zu holen. aber ich muß aufpassen, das weiß ich. ich muß wissen, was vor sich geht, so schnell wie möglich. ich muß alles sehen, es hören zumindest, rechtzeitig. denn ich muß bereit sein.

ich will mich wehren, wenn es soweit ist.

was ich lebe, was ich leben muß, dazu kann ich nichts. das war nicht meine wahl, doch ich weiß es nicht anders, nicht besser. ich will bleiben, wo ich bin, wo ich zurechtkomme. an dem ort, an dem ich weiß, wo ich eingesperrt werde, wenn es anders nicht geht. in der kammer gleich neben der küche. das kenne ich, das ist nicht weiter schlimm.

nach einer weile steht fest, daß die drohung eine leere hülle war. nur lärm und schreierei, ein um sich schlagen, ein wutschnauben vielleicht. worte, mehr nicht, denn nichts geschieht. alles bleibt ruhig, tage- und wochenlang. niemand traut sich, vermutlich, mich irgendwo hinzubringen. wohin auch immer. ich bleibe, ich werde weiterhin gebraucht. immer wieder geht das spiel von vorne los, worte und sätze wiederholen sich: du bist nicht normal, du bist doch nicht gescheit. du gehört weg, woanders hin. guck dich doch mal an, glaubst du dich will wer? usw.

wie kämpft man mit worten gegen worte? verrückte, leere worte. denn worte gegen worte sind wertlos, mitunter.

mach das maul auf, werde ich angebrüllt. kein mensch weiß, was du eigentlich willst. und ich weiß es auch nicht. schon lange nicht mehr. du hast mich ziege genannt, sage ich schließlich und blicke mit aller kraft auf. bist du doch auch, heißt da die antwort. wobei mir bereits der rücken zuwendet ist.

bezeugen

wieder bin ich ehrlich überrascht von resonanz und wirkung des zweiten textes aus der kleinen reihe welten bewegen. auf hotel mama hält casino die letzte szene für beinah das schlimmste, das sie zu diesem thema gelesen hat. und kontert mit eigenen erfahrungen, als kind wie auch als mutter. wie gut, denke ich, daß viele offensichtlich anders leben dürfen, heute.

aus meiner sicht allerdings ist das eine relativ harmlose geschichte, zumindest was das niedergemacht, das geschlagen werden angeht. das war immer eine klare sache, ein beinah offener kampf, wenn auch unfair gewichtet. gegen einen erwachsenen mann, der tagtäglich körperlich arbeitet, kommt man als kind nicht an. aber es gab wenig wut und verachtung in der aggression, es geschah niemals spontan, sondern immer als strafaktion. das schmälert die wucht, ganz eindeutig. an ursachen oder begründungen erinnere ich mich nicht, aber ziel war (vermutlich), mich zu brechen, meinen willen, das eigene an mir. auf jeden fall für den moment.

es hat ein paar jahre gedauert. ich war elf oder zwölf, als ich den kampf endlich gewonnen hatte. nicht körperlich, aber mit einem einzigen satz, mit sieben worten: du gehst mir nicht an die hose. danach war es vorbei. nie wieder bin ich seither von jemandem derart angegangen worden. bis auf das eine mal, als mir eine brille im gesicht zerschlagen wurde. gut, da war ich fünfzehn. aber dann. da war wenigstens das vorbei.

es gibt anderes, schlimmeres. (casino vermutet da ganz richtig.) ich werde darauf zurückkommen in den nächsten tagen.

eins noch: ich schreibe hier darüber mit großer vorsicht und respekt, daher ist – aus meiner sicht – vieles verkürzt oder absichtlich ungenau oder sogar verfälscht. das muß sein, denn mein anliegen ist es nicht, anklage zu erheben, gegen wen auch immer. ich bin weder richter, noch verteidiger, obwohl mir in dem zusammenhang beide rollen schon untergekrochen sind. das bleibt nicht aus. aber das muß nicht sein, nach all den jahren.

an sich bin ich aber heute nur noch zeuge. ich versuche zu sagen, was an gewalt innerhalb der keimzelle der gesellschaft alles möglich war und vermutlich möglich ist. und zwar weit jenseits der wahrnehmungsgrenze, die offensichtlich bei blut und mord oder anderer nachhaltiger vernachlässigung erst fällt.

ich bin allerdings kein neutraler zeuge, das ist wahr. ich bezeuge mithilfe von erinnerungen, die in meinen knochen wohnen, schlafen, und mitunter schmerzhaft zu vibrieren beginnen. mehr ist es jedoch nicht.

welten bewegen (2)

kinder bewegen welten, immer. sie kreieren sie sogar. sie stellen de facto welten her, in ihren köpfen und mit ihren händen. das nennt man wachsen. auch habe das getan. immer.

geschlagen werden. ich weiß nicht, wie viele menschen das überhaupt kennen. und ich meine damit nicht sich schlagen, also einen mehr oder weniger berechtigten streit austragen mit mehr oder weniger passenden oder unpassenden mitteln.  ich meine nicht aufeinander losgehen, herumraufen, am boden liegen, und am ende vielleicht so aufgeputscht wie betroffen voneinander ablassen. das kenne ich auch nicht.

ich meine das andere schlagen. ich meine übers knie legen, so heißt das, wenn man jemanden verprügelt. man tut das mit kindern, vorwiegend, in der konstellation ist es eine leichte übung. es gibt aber auch situationen, filme zum beispiel, wo frauen dafür herhalten müssen. auf die art geschlagen zu werden, ist für so manchen lacher gut.

gepackt und umgeworfen werden, vor der vollstreckung auch noch die klamotten heruntergerissen bekommen. den arsch voll kriegen tut übrigens nicht besonders weh, nicht lange zumindest, und auch verletzungen sind kaum zu erwarten. es handelt sich einfach nur um eine wildes geschehen, ein stampeln und kämpfen, ein schreien, heulen und würgen. auf meiner seite, die andere habe ich nie  ausprobiert.

die andere seite steht (dumm) da, danach, und weiß auch nicht, was noch zu tun ist. die hand des vaters hat rote abdrücke auf meiner haut hinterlassen, selbst die lücke, die das fehlende fingerglied läßt, zeichnet sich deutlich ab. das ist gut, darüber kann man lachen, und sie tut es, die andere seite. es ist wie eine einladung, an der stelle könnte ich einstimmen, mich solidarisch erklären. familie spielen. das würde es leichter machen, für alle, auch für mich. um wieder mit anstand in die klamotten und auf die beine zu kommen.

ich tue es nicht, niemals. ich verzichte, aus wut und aus scham. ich gehe auf distanz und bleibe dort. ganz am rand, in aller stille, das ist meine welt. die welt, die ich bewegen kann. das wird mich bald schon viel kosten, schimmeres als prügel. dadurch bin ich selber schuld, an allem und jedem.

an eines erinnere ich mich in dem zusammenhang, der mir nach wie vor recht klar vor augen steht, übrigens überhaupt nicht: ich habe keine ahnung, wer mich anschließend wieder angezogen, mir die klamotten zurückgegeben oder die schlafanzughose hochgezogen hat. wer war das? er? sie? oder doch ich selbst, wie immer? an dem punkt ist ein loch in mir, unmittelbar nach dem kampf setzt die amnesie ein. wie kann das sein?

soviel zum thema: wer nicht hören will, muß fühlen. das stimmt natürlich nicht, und es kann auch gar nicht funktionieren. wer so fühlen muß, vergißt alles mögliche, am ende sich selbst womöglich.

erkennen

ein wenig überrascht bin ich schon, ob der resonanz auf den gestrigen beitrag. obwohl es sich doch bereits durch die letzten wochen und monate zog, das wissen und wiedererkennen überall. bei gesine vor drei wochen und daraufhin in den gesprächen mit acr, aber auch schon im november, durch meine flüchtig getwitterte bemerkung über die „versehentliche folter der kindheit“, die unter anderem von der kaltmamsell aufgegriffen wurde.

und jetzt in den kommentaren, in diesem zum beispiel. wie ich das kenne, erkenne, sofort: die durchwachten nächte, weil es anderes nicht gibt. die hoffnung auf das alleinsein dürfen als erwachsene. den totstellreflex im angesicht der freßfeinde, der beherrscht mich bis heute.

deshalb tue ich das, was ich gerade tue. für mich muß ich die alten geschichten nicht wiederholen, über zwanzig jahre habe ich kaum etwas anderes gemacht. (und mein dank gilt allen, die sich das haben anhören müssen oder wollen.) bis es mir selbst gereicht hat, endgültig. das erkennen aber, das wiedererkennen ist es wert. dieses thema, das so groß ist. und so wenig raum findet bislang.

ich atme jetzt aus und wieder ein und dann wieder aus. mit ein paar worten vermutlich.

welten bewegen (1)

gestern nacht versehentlich in einer doku über mutterliebe gelandet. stellen sie sich vor, sie können ihrer mutter nicht vertrauen, sagt da ein psychologe, sinngemäß, mit ernster miene. stellen sie sich außerdem vor, sie können auch ihrem vater nicht vertrauen. wem wollen sie dann überhaupt jemals im leben vertrauen?

keine ahnung, warum ich danach die halbe nacht nicht schlafe. ich muß mir das nicht vorstellen, ich weiß das. alles. ich muß mich nur erinnern. und ich muß etwas erklären, denen, die sich diesen zustand vielleicht tatsächlich vorzustellen versuchen. es handelt sich nicht um einen verlust. es ist einfach nur die welt, in die das kind hineingeboren ist. es kennt keine andere, also empfindet es kein manko. die gefangenschaft ist von grund auf normal, der mangel, von anfang an geübt, ist reine gewöhnung. das kind geht damit um, das ist alles. es lebt damit, weil es muß. oder weil es will.

so bin ich aufgewachsen. allein. was es zu lernen gab, habe ich gelernt. das denken und fühlen, der umgang mit beidem. das geht seinen weg wie von selbst, in großer enge wie in tiefer liebe. vermutlich, über letzteres weiß ich natürlich nichts. doch die erforschung der welt ist selbstverständlich, auch die meiner welt. die menschenleer war und gefährlich, wegen der menschen darin. es gibt fehler, die bei all dem passieren. es gibt immer fehler, das ist gut. menschen brauchen ihre fehler. kinder ganz besonders.

meine fehler waren weniger gut für mich. sie standen vor allem anderen zur freien verfügung, als anlaß für alle nur erdenklichen arten der mißhandlung. wie ich nachts die tapeten von der wand riß, weil ich damals schon nicht schlafen konnte. da war ich noch nicht in der schule. wie ich der zerstörung zuhörte, die ich anrichtete. das reißen und kratzen, zwanghaft. ein druckausgleich, denke ich heute. wie ich mir zusah dabei und es doch nicht stoppen konnte. das war verzweiflung. jede nacht aufs neue, ohne ausweg. am tag wurde ich dafür davor fixiert: was hast du dir dabei gedacht? ich wußte es nicht, auch im nachhinein nicht. woher denn?

später die strategien, um über die zeit zu kommen. ein tag nach dem anderen, mehr war nicht drin. das vermeiden und verstecken der eigenen existenz, die ständige selbstverleugnung. das abtauchen, unter der allgegenwärtigen vernichtung, die familie heißt, hindurch. vielleicht ist deshalb das atmen manchmal so schwer, so knapp. fehler machen gehört dazu, zurückweisung, schweigen und lügen zum beispiel. das läßt sich nicht vermeiden. und es wird aufgedeckt, aufgebauscht und kalt aufgetischt. wie ich nicht nach hause wollte nach der schule. weil ich die enge nicht ertragen konnte, den menschen dort nicht begegnen wollte. wie ich stunden durch straßen und über wiesen lief, um für mich zu sein. zu hause gab es keinen raum, keine tür hinter mir bis ich siebzehn war. wie ich freunde erfunden habe, schlecht erfunden, um meine verspätungen, mein ausweichen, mein flüchten, meine ständige angst zu verberben, zu begründen. wie ich davor fixiert wurde, jedesmal: wer einmal lügt!

alles ist lüge. es gibt kein richtig und kein falsch, falsch bin nur ich. das ist es, das muß es sein. und da heraus gibt es keinen weg, selbst wenn das kind ihn womöglich sucht. auch das ist verzweiflung, doch es ist nicht zwangsläufig eine suche nach liebe oder vertrauen. so etwas existiert nicht, diese welt ist eine grundlegend andere. sie ist bodenlos von anfang an. ein ständiges fallen und schweigen darüber.

wie ich angeschrien wurde, über jahre. kinder, die was wollen! wie ich eingesperrt war, in die ecke gedrängt, unter dem tisch verkrochen. stell dich nicht so an! wie ich beschimpft, gedemütigt und geschlagen wurde. was glaubst du, wer du bist! hunde werden mit größerer güte abgerichtet, das kann man heute im fernsehen lernen.

dennoch gibt es in dieser welt irgendwann eine gewißheit, die aus der eigenen existenz wächst. ein vertrauen in körper und geist, die trotz allem so leicht nicht aufhören. zu leben. an dem punkt irren die psychologen womöglich. hinter dem vertrauen in menschen liegt das weit größere vertrauen in die welt. in irgendeine, die sich den kindern öffnet. allen kindern, ohne ausnahme. kein kind ist ohne welt. und da immerhin hatte ich glück, denn meine war mir immer beweglich. und bunt, entgegen alle erwartung.

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